Konzentration – Zentriertheit – Akupunktur

 

Von neuen Teilnehmern der Akupunkturausbildung werde ich immer mal wieder gefragt, warum wir am Beginn eines Ausbildungstages zunächst eine meist einstündige Meditation machen. Es geht dabei um Zentriertheit.

Konzentration ist nach außen gerichtet. Also das zentrieren der Wahrnehmung auf ein äußeres Ereignis.
Zentriertheit ist stattdessen nach innen gerichtet.


Konzentration

Ein Bogenschützenmeister nimmt seine drei besten Schüler mit hinaus aufs Feld. Als sie an dem Baum ankommen, an dem die Zielscheibe aufgehängt wird, fragt er seinen ersten Schüler: „Was nimmst du wahr?“ Der Schüler beschreibt die Gerüche, das Blau des Himmels, die Farbe der Erde, der Vegetation, des Baumes, das leise rascheln der Blätter im Wind, die Zielscheibe mit ihrem Zentrum. Er stellt die Frage dem zweiten Schüler und der antwortet: „Die Zielscheibe“. Der dritte antwortete auf dieselbe Frage mit: „Das Zentrum der Zielscheibe“. Es ist wohl keine Frage, wer als Bogenschütze der beste von den dreien sein wird.
Konzentration ist das ausschließen von Wahrnehmungen, die von der eigentlichen Aufgabe ablenken würden.


Zentriertheit

Ein Mönch hatte in dem Zenkloster wochenlang meditiert und lässt dem Abt melden, er sei bereit. Er sei in seinem Zentrum angelangt. Daraufhin wird er aus seiner Klosterzelle auf den Schießplatz geführt, dort werden ihm die Augen verbunden, ihm werden Pfeil und Bogen in die Hand gedrückt, er wird mehrfach im Kreis gedreht und schließlich legt er an und trifft genau ins Zentrum der über 100 m entfernten Zielscheibe. In dem Augenblick, in dem er den Pfeil loslässt, implodiert das gesamte Universum in ihn hinein.
Wenn jemand so zentriert ist, dass er sein eigenes Zentrum nur noch als einen einzigen Punkt wahrnimmt, dann ist das Bogenschießen im Zen nur noch der Test, ob er sich selbst etwas vorgemacht hatte oder ob es zutrifft.


Das sind zwei grundverschiedene Herangehensweisen an scheinbar dasselbe Ziel, nämlich das Zentrum der Zielscheibe. Aber nur von außen stellt es sich so dar. Denn tatsächlich geht es dem Bogenschützenmeister und seinen Schülern um das Zentrum der Zielscheibe, während es dem Zenmönch nur um sein eigenes Zentrum geht.

Was hat das mit Akupunktur zu tun?

In der Akupunktur gibt es keine Zielscheiben und somit auch kein Zentrum einer Zielscheibe. Im Außen gibt es, wenn wir uns den Körper eines Patienten ansehen, nur Haut, keine irgendwie sichtbaren Punkte. Und das bedeutet, dass uns Konzentration in diesem Fall überhaupt nichts nützt. Es gibt einfach nichts, worauf wir uns konzentrieren könnten.

Zwar gibt es in der sogenannten TCM alle möglichen Tafeln mit Abbildungen der Meridiane und der sich darauf befindlichen Akupunkturpunkte, es gibt darüber hinaus für Prüfungen das Modell eines Menschen, bei dem die Akupunkturpunkte mit Wachs abgedeckt und deshalb nicht sichtbar sind, doch das hat herzlich wenig mit der Realität der Behandlung eines Menschen zu tun.
In der Realität entspricht kein einziger Mensch dem Modell der Akupunkturschulen.
Wir haben es stattdessen mit Menschen vom Säuglingsalter bis zu geradezu Riesen mit mehr als 2 m Größe zu tun, mit Menschen, die nur noch Haut und Knochen sind und umgekehrt Menschen mit einer gewaltigen Leibesfülle. Doch bei allen sollen hundertprozentig sicher die Akupunkturpunkte gefunden werden. Nur, dass wir dummerweise kein Millimeter Papier auf der Haut haben, das je nach Größe und Körperfülle schrumpfen oder sich ausdehnen würde, sodass wir einfach nur ab zu zählen bräuchten, wo sich die Akupunkturpunkte befinden. Mal abgesehen davon, dass selbst Millimeter Papier noch viel zu ungenau wäre. Es gibt auf unserer Haut überhaupt keine Anhaltspunkte dafür, wo sich ein Akupunkturpunkt befinden könnte. Entsprechend ist die Lehre der TCM, dass ein Akupunkturpunkt die Größe ungefähr einer ein Cent Münze habe.

Tatsächlich entspricht ein Akupunkturpunkt eher dem Zentrum einer Zielscheibe, ein winziger Punkt, in dessen Zentrum die Akupunkturnadel platziert werden muss. Nach den gängigen Lehren der Akupunktur, die auch an Universitäten gelehrt wird, würde es demzufolge den oben beschriebenen Bogenschützen genügen, überhaupt die Zielscheibe zu treffen, was in dem Beispiel mit dem Zen Mönch zwar immer noch eine gewaltige Leistung wäre, mit verbundenen Augen ohne zu wissen, wo die Zielscheibe überhaupt ist, seinen Pfeil nicht irgendwohin zu schießen.

 

Meditation und das eigene Zentrum

Wenn wir vor einem Patienten stehen, dann sind wir ähnlich blind wie der Zenmönch. Und sollen dennoch ganz genau das Zentrum eines Akupunkturpunkts treffen. Eine Wahrnehmung, ein Wissen, das nur aus dem eigenen Zentrum heraus möglich ist. In sein eigenes Zentrum gelangt man jedoch nicht mit einer nach außen gerichteten Wahrnehmung. Sondern nur und ausschließlich durch Meditation. Doch wenn man in diesem Zentrum ist, dann ist das Setzen einer Akupunkturnadel eine Kommunikation zwischen zwei Zentren, dem inneren Zentrum des Behandlers und dem Zentrum des Akupunkturpunktes des Patienten.

 

Trainieren der Wahrnehmung

Wenn man da erst mal hineingewachsen ist, zunächst einmal unter anderem mit spüren, weil es nämlich eine feine Wahrnehmung zwischen dem Kontaktpunkt in der Fingerspitze und dem Akupunkturpunkt gibt, die zu erspüren mit Anfängern trainiert wird, dann braucht man zu Beginn einer Behandlung nicht mehr unbedingt eine Meditation, obwohl selbst eine noch so kurze Meditation dazu beiträgt, den Alltag ab zu schütteln und in der Gegenwart, im Hier und Jetzt anzukommen. Denn eine Akupunkturnadel kann immer nur im Hier und Jetzt gesetzt werden.

 

Von Zentrum zu Zentrum

Dann kommt es zu einem seltsamen Phänomen. In dem Augenblick, in dem ich mich mit der Akupunkturnadel der zunächst ungefähr wahrgenommenen Zone, in der sich der Akupunkturpunkt befindet, annähere, kommt es zu dieser Kommunikation zwischen Zentrum und Zentrum, die in der Akupunkturausbildung des Akupunktur Instituts Heidelberg trainiert wird.

Eine spezielle Meditationstechnik, die allerdings nicht gleich zu Beginn gelehrt wird, verbindet darüber hinaus die Wahrnehmung von unseren Augen und der Wahrnehmung durch unsere Fingerspitzen, um absolut genau Akupunkturpunkte lokalisieren zu können.

Ähnlich wie beim Zen Bogenschießen gibt es eine Rückmeldung durch den Patienten. Denn eine exakt gesetzte Akupunkturnadel ist nicht schmerzhaft. Zwar kann es einen leichten Piks geben, je nachdem, wie stark der Patient angespannt ist, aber nach dem setzen der Nadel ist sie nicht mehr zu spüren. Und falls doch, sitzt sie falsch. Das kann selbst mir oder meinen Schülern gelegentlich passieren, wenn man in dem Augenblick, in dem man die Nadel setzen will, abgelenkt ist, beispielsweise durch ein Gespräch. Denn mit dem Gespräch ist man im Außen und nicht mehr in der Verbindung zum eigenen inneren Zentrum.